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Ein unbekanntes Volk? Daten, Fakten und Zahlen

Zur Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in Europa

Woher kommen Sinti und Roma? Seit wann leben sie in Europa? Welche Religion haben sie? Was ist Romanes für eine Sprache? Unser Wissen über das Leben der Sinti und Roma in der Vergangenheit ist sehr begrenzt. Es gibt fast keine eigenen Schriftquellen, Fakten, Daten und Zahlen, die über Klischees und Vorurteile aufklären.

Herkunft

Unser Wissen über das Leben, auch über Einzelheiten der Geschichte der Sinti und Roma in der Vergangenheit ist sehr begrenzt, da es fast keine eigenen Schriftquellen gibt. Fast alle Informationen wurden Jahrhunderte lang von Nicht-Sinti und -Roma gesammelt und weitergegeben, zum Teil aber auch nur abgeschrieben. Vieles liegt hier im Dunkeln.

 

Seit dem späten 18. beziehungsweise frühen 19. Jahrhundert ist aufgrund linguistischer Studien die Herkunft als gesichert anzusehen. Die Vorfahren der heute in Europa lebenden Roma und Sinti stammen ursprünglich aus Indien beziehungsweise dem heutigen Pakistan. Sie wanderten seit dem 8. bis 10. Jahrhundert über Persien, Kleinasien oder den Kaukasus (Armenien), schließlich im 13. und 14. Jahrhundert über Griechenland und den Balkan nach Mittel-, West- und Nordeuropa; und von dort aus auch nach Amerika. Möglicherweise gab es einen weiteren Migrationsweg über Nordafrika nach Spanien. Die Quellenlage ist hier aber sehr dürftig.

 

Hintergrund war kein – ihnen lange Zeit unterstellter – Wandertrieb, sondern sie waren oder sie sahen sich durch Kriege, Verfolgung, Vertreibung oder aus wirtschaftlicher Not zu dieser Wanderung gezwungen, die bezogen auf Mitteleuropa über 500 Jahre dauerte.

Ankunft in Europa

In Europa waren Roma "neue Fremde". Sie unterschieden sich von den Einheimischen im Aussehen, in ihren kulturellen Traditionen und durch die eigene Sprache, durch das Romanes. Sie wurden als "Tartaren" (Norddeutschland, Skandinavien), als "Ägypter" (England, Frankreich), "Böhmen" (Frankreich) oder sehr häufig als "Heiden" bezeichnet. Ab dem 14./15. Jahrhundert werden sie "Cingari" oder "Volk des Pharaos" genannt oder auch "Athinganoi" (= Unberührbare), ins Deutsche übertragen als "Zigeuner". Diese Begrifflichkeit gibt es im Ungarischen, im Rumänischen, in den slawischen Sprachen, aber auch in den romanischen Sprachen.

 

Die Geschichte der Roma ist regional in Europa sehr unterschiedlich. In Osteuropa wurden sie oft zu Leibeigenen oder gar Sklaven gemacht, in Mitteleuropa dagegen wurden die Sinti als Teilgruppe der Roma Ende des 15. Jahrhunderts zu Vogelfreien (Rechtlosen) erklärt, die sich der Gruppe der Fahrenden anschließen mussten und diesen bald den Namen gaben: "Zigeuner".

 

Bezeichnung

Roma gilt als der allgemeine Sammelbegriff für die außerhalb des deutschen Sprachraums lebenden Gruppen; in Deutschland wird er überwiegend für die Gruppen im südosteuropäischen Raum gebraucht. Lange Zeit wurde der Begriff "Zigeuner" benutzt, der eine Fremdbezeichnung ist und von vielen Sinti und Roma als beleidigend oder herabsetzend empfunden wird.

 

Sinti (Einzahl, männlich: Sinto; Einzahl, weiblich: Sintez(z)a) und Roma (Einzahl, männlich: Rom, auch Ehemann oder Mensch; Einzahl, weiblich: Romni) sind die Bezeichnungen von im gesamten Europa lebenden Minderheitengruppen. Die Bezeichnung Sinti für die mitteleuropäischen Gruppen leitet sich möglicherweise von der Region Sindh (Indus) ab.

Romanes – die Sprache der Roma und Sinti

Das Romanes, die Sprache der Roma und Sinti, ist mit dem indischen Sanskrit verwandt. Romanes hat im Laufe der Jahrhunderte und aufgrund der Wanderwege beziehungsweise der jeweiligen heutigen Heimatregionen unterschiedliche Dialekte entwickelt, sodass man zum Beispiel von einem "deutschen Romanes" oder einem "ungarischen Romanes" spricht. Einige Roma-Gruppen haben im Verlauf der langen Geschichte, vor allem der Ausgrenzung und der versuchten Zwangsassimilierung, ihre Sprache verloren.

 

Romanes ist vor allem eine mündliche Sprache. In verschiedenen Regionen Europas gab und gibt es Projekte und Vorhaben, Romanes zu verschriftlichen oder auch zu vereinheitlichen, nicht immer unter Beteiligung der Betroffenen. Größere Projekte gab es unter anderem in der frühen Sowjetunion, in Polen und auch in Deutschland.

 

Antiziganismus

Antiziganismus ist die Abwehrhaltung der Mehrheitsbevölkerungen gegen Roma und Sinti. Antiziganismus bezeichnet die Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik gegen Sinti und Roma seit dem 15. Jahrhundert.[6] Im Antiziganismus werden Mitglieder der Gruppen der Roma und Sinti pauschalisierend als "fremd", "nomadisch", "müßiggängerisch", "musikalisch" und "frei", "primitiv", "archaisch", "kulturlos" oder "kriminell" und "modernisierungsresistent" kennzeichnet. Wichtig ist, dass es sich um Bilder handelt, die auf Personen und Personengruppen übertragen werden.

Antiziganismus ist eine bis heute in der Gesellschaft durchaus akzeptierte Grundhaltung vieler Menschen gegenüber Sinti und Roma. Diese Grundhaltung macht es unmöglich oder schwierig, die realen Menschen zu erkennen, und sie führt zu massiven Diskriminierungen der Minderheit. Antiziganismus richtet sich gegen eine ethnische Minderheit, der ein solches Verhalten vielfach als unveränderliche Wesensart unterstellt wird. „Der gegenwärtige Antiziganismus“, so der Berliner Historiker Wolfgang Wippermann, „ist mehr ein Produkt der Vergangenheit als der Gegenwart. [… Vorurteile sind mit Krankheiten zu vergleichen. Wenn man weiß, wann und warum sie entstanden sind, weiß man meist auch, wie man sie heilen und beseitigen kann.“[7]

 

 

 

Abgekürzte Variante

"Eine Geschichte von Klischees und Vorurteilen"

Ein Gespräch mit Klaus-Michael Bogdal über die Lage der Sinti und Roma in Europa

Seit vielen Jahren erforscht Klaus-Michael Bogdal das Bild der Sinti und Roma in Europa. Sein Fazit: Der "Zigeuner" erweist sich als eines der langlebigsten europäischen Klischees. Über die Strukturen des Roma-Hasses, die Mechanismen der Ausgrenzung und die Aktualität diskriminierender Fremdbilder.

 

Warum wurden und werden leider vielerorts immer noch Angehörige der Romvölker reflexartig als Gefahr wahrgenommen, sobald sie irgendwo auftauchen?

Für die europäischen Mehrheitsvölker sind sie das Andere schlechthin. Vor jeder Erfahrung mit einzelnen Menschen steht die Gewissheit, schon alles über "Zigeuner" zu wissen. Gefahr drohe deshalb, weil man sicher ist, zur Zivilisation unfähigen "Wilden" mit einem angeborenen Wandertrieb gegenüber zu stehen, Parasiten und Betrügern zu begegnen, denen man nicht vertrauen darf. Wir haben es mit einem nur schwer zu erschütternden Unwissen zu tun, das darauf hinaus läuft, den Roma die Menschenwürde abzusprechen. Vor dem, der nicht "wie wir ist", sondern in allem ganz anders, müssen wir uns hüten, sobald er uns zu nahe kommt und mit uns kommunizieren, arbeiten und leben möchte.

Wie sehen die Signaturen aus, die ihnen eingeschrieben sind?

Es sind in erster Linie Signaturen der Bedrohung. Wir deuten in der Begegnung ihre Armut, ihre mangelnde Gesundheit, ihre Unbildung ebenso wie ihren familiären Zusammenhalt als potenzielle Gefährdungen "unserer" Lebensweise. Dabei ist die Wahrnehmung durchgängig selektiv und begnügt sich mit wenigen Bildern von den nackten, verwahrlosten Kindern über die aufdringlichen Frauen bis zu den "Sippenchefs" mit den Goldzähnen. Die Tatsache, dass es auch Roma gibt, die Handwerker, Anwälte, Künstler, Berufsfußballspieler sind, wird völlig ausgeblendet

Wie kam es dazu, dass ihre Gegenwart und Nähe nicht geduldet werden und ein Zusammenleben undenkbar erschien?

Das ist eine Entwicklung, die sich über einen langen Zeitraum in unterschiedlichen Phasen vollzieht.

Im Zuge der Herausbildung territorialer Nationalstaaten geraten sie in West- und Zentraleuropa als Minderheit im wahrsten Sinne des Wortes zwischen die Fronten und werden von Territorium zu Territorium gejagt. Nun werden auch sesshafte Familien gezwungenermaßen zu Nomaden.

In diese Phase fällt auch der Rückzug vieler Gruppen in Randgebiete des europäischen Kontinents. Vor allem seit der Aufklärung beginnen die europäischen Gesellschaften ihren zivilisatorischen Fortschritt an den, wie sie meinen, zurückgebliebenen "Zigeunern" zu messen. Das gilt für die zentralen Merkmale moderner Gesellschaften: die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins, die Staatenbildung, die Wissenschaft, Technik und Kultur, die bürgerliche Moral, die städtischen Wohnformen, die Esskultur und die Körperhygiene. Man glaubte, dass die Romvölker diese Standards weder anstreben noch jemals erreichen würden. Die Konsequenz aus all dem ist Ausgrenzung und Distanznahme.

Warum erkannten die europäischen Gesellschaften bei diesem Volk die Selbstbezeichnungen wie "Sinti", "Roma" oder "Kalderasch", die schon seit Jahrhunderten bekannt sind, nicht an und blieben stattdessen bei den abwertenden Fremdbezeichnungen wie "Tatare", "Gypsy" oder "Zigeuner"?

Volksnamen und -bezeichnungen sind für die Sprach- und Literaturwissenschaft ein interessantes, aber auch ein "weites" Feld. Verkürzend würde ich auf das asymmetrische Machtverhältnis zwischen Mehrheiten und Minderheiten verweisen, das sich auch auf sprachlicher Ebene widerspiegelt. Der Fremdbezeichnung kann Gleichgültigkeit ebenso zugrunde liegen wie Missachtung. Der Begriff "Zigeuner" wurde schon sehr früh abwertend gebraucht. Bei vielen Minderheiten wie den Inuit, Sami oder Afroamerikanern musste die Selbstbezeichnung in langen Auseinandersetzungen durchgesetzt werden. Die Anerkennung ist für sie ein Zeichen dafür, dass zumindest im öffentlichen Raum – in Behörden, der Politik, den Medien – Herabsetzungen nicht mehr geduldet werden und ein respektvoller Umgang verlangt wird. Wer sich in einer Minderheitenposition befindet, hat es mit der Durchsetzung ungleich schwerer als ein souveräner Staat wie zum Beispiel Ceylon, der die Selbstbezeichnung Sri Lanka erzwingen kann. Über Mazedonien wollen wir jetzt lieber nicht reden.

Inwieweit unterschied und unterscheidet sich die "Zigeunerfeindschaft" vom Antisemitismus?

Es gibt eine Reihe gravierender Unterschiede. Das gilt für die Frage nach der Herkunft ebenso wie für den Zeitpunkt der Ankunft in Europa. Wichtig ist auch, dass die Gemeinschaft der Juden schon immer für sich selbst gesprochen hat und ihre Identität durch eine eigene Religion gestiftet wird. In meinem Buch sage ich, dass die Juden das Andere repräsentieren, das man niemals sein kann, die Romvölker das, was man auf Dauer niemals sein möchte.

Die Lage der Roma in Ländern wie Ungarn oder Tschechien wird immer ernster. Was kann Europa tun, um die Lage der Roma zu verbessern?

Wir sollten offen von einem latenten und manifesten Rassismus nicht nur in den genannten Ländern sprechen, dem die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft nicht genug entgegentreten – und von Gesellschaften, in denen Apartheit zur Alltagsrealität wird. Diese Länder dürfen sich ihrer Verantwortung für einen Teil ihrer Bevölkerung nicht länger entziehen. In erster Linie geht es um elementare Dinge wie menschenwürdige Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung und Zugang der Kinder zum Bildungssystem. Hinsichtlich der Arbeitsmigration ist panische Abwehr eine falsche Reaktion, die zu keinerlei Lösungen führen wird. Politische Bildung bei den Verantwortlichen auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene ist dringend gefragt.

Welche Mechanismen der Geschichte spielen in der Debatte um die Armutseinwanderung in Deutschland eine Rolle? Oder anders formuliert: Welche Fremdbilder erkennen Sie in der Debatte um die sogenannte Armutseinwanderung wieder?

Ich möchte den Begriff der Armutseinwanderung nicht verwenden, sondern das Phänomen sachlich benennen: als Mobilität auf dem Niveau des untersten Arbeitssegments. Auch diese Menschen wollen vor allem arbeiten, auch wenn sie oft über keinerlei Ausbildung verfügen, die sie als Arbeitskräfte attraktiv macht. In meinem Buch spreche ich wie die Historiker von der "Entheiligung" der Armut am Ende des Mittelalters. Man beginnt nun die Armen anstatt der Armut zu bekämpfen. Vor allem die Armut der Roma gilt seit dieser Zeit als direkte Folge ihrer Unfähigkeit zu einem regelmäßigen Broterwerb. Sie drehen sich um die Vorstellung, dass "Zigeuner" übers Land ziehen, sich überall breitmachen.

Damit sind wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt. Wohin sollen sie aus Sicht der Mehrheitsbevölkerung verschwinden? Dorthin, wo sie herkommen. Aber auch die dortige Mehrheitsbevölkerung ist der Auffassung, dass sie "verschwinden" sollten. Die Nationalsozialisten haben diese Spirale der Diskriminierung, Verfolgung und Vertreibung konsequent zu Ende gedacht: bis zur Vernichtung – dem endgültigen "Verschwinden".

 

Das Interview führte Tobias Asmuth.

 

Geschichte des Denkmals

Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus wurden von 1933 bis 1945 Hunderttausende Menschen in Deutschland und anderen europäischen Ländern als »Zigeuner« verfolgt. Die meisten von ihnen bezeichneten sich selbst nach ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen beispielsweise als Sinti, Roma, Lalleri, Lowara oder Manusch. Die größten Gruppen in Europa waren die Sinti und Roma. Ziel des nationalsozialistischen Staates und seiner Rassenideologie war die Vernichtung dieser Minderheit: Kinder, Frauen und Männer wurden verschleppt, an ihren Heimatorten oder in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.

Mit eigener Stimme

Auf dem Video ist der kurze Teil eine theatralische Version des TKO Theater aus Köln, Projektes: “Voices of the Victims“ nach RomArchive Sammlung Dr. Karola Fings
Dieses Theaterstück sie veranschaulicht die Bedeutung von Verfolgung und Völkermord während der Jahre 1933 bis 1945 für Sinti und Roma in seiner europäischen Dimension. In »Voices of the Victims« sammelte man aus zwanzig Ländern frühe Selbst-zeugnisse von Sinti und Roma, die Opfer der NS-Verfolgung wurden: geheime Nachrichten, Gnadengesuche, Zeugenaussagen.
Trotz seiner konzentrierten Form besticht das Werk durch eine sensibilisierte und problemorientierte Ausführung, die einen idealen Einstieg in die Thematik und zugleich eine reflektierte Gesamtdarstellung zur Geschichte der Sinti und Roma bietet.

Premiere Mittwoch, 20.11.2019
Ort: NS-Dokumentationszentrum Köln, Appellhofplatz 25, 50667 Köln Zeit 19Uhr
Produktion: Theater-TKO
Regie, Dramaturgie: Nada Kokotovic
Raum Instalation: Asja Uritskaya
Kostüme: Joanna Rybacka
Presse/ Öffentlichkeits-Arbeit: Iris Pinkepank
Es spielen: Nedjo Osman, Zeljka Basic, Katharina Waldau, Klaus Nicola Holderbaum, Tuong Phuong
Gesprochen wird Deutsch, Romanes, Kroatisch, Serbisch,

 

In dem Video, es spielen: Nedjo Osman, Katharina Waldau, Klaus Nicola Holderbaum

Theaterproduktion: Theater TKO

Videoproduktion: Amaro Drom e.V.

Kamera und Montage: Denis Petrovic Ton: Roman Bakuradze

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=Vm0stk2Rem8